Wo sind die Toten?

Was geschieht eigentlich mit den Menschen, die wir geliebt haben, wenn sie die Augen schließen? Was wird einmal mit uns geschehen? Versinken wir dann in einer dunklen Nacht, bis die Posaune des Jüngsten Gerichts uns aus den Gräbern ruft?

Luther hat gelegentlich gesagt: “Wir sollten unsere Gedanken nicht in den Zonen solcher unlösbarer Fragen herumvagabundieren lassen. Es sei ganz einfach so: Die Toten seien aus dieser Zeitlichkeit abgerufen, während für uns die Zeit noch weiterlaufe. Darum könnten wir uns den Zustand des Totseins nicht vorstellen. Es sei damit ähnlich wie beim Schlaf: Auch der Traum hält sich ja nicht an die normalen zeitlichen Abläufe. Vielleicht erwachen wir nach langem Schlaf und wissen nichts von der Zeit, die inzwischen verronnen ist. So sei es auch mit dem Schlaf der Toten, der am Jüngsten Tage endet: Wenn wir auferweckt werden, ist dieses Zwischenstadium in einem Nu vergangen, und wenn unsere Gräber dereinst gesprengt werden von der letzten Posaune, dann meinen wir, dass wir eben erst eingeschlafen seien.
Nur den Zurückbleibenden, die weiter an die Zeitlichkeit verhaftet blieben,
erscheine das als ein langgestrecktes Zwischenstadium”.

 

 

So verblüffend einfach hier alles aufzugehen scheint und der Zustand nach dem Tode dann gar kein Problem mehr ist, so wenig will uns diese Lösung befriedigen. Wir möchten trotz allem mit dem Liede singen: „Was die lange Todesnacht mir auch für Gedanken macht ...“ Sie macht uns eben Gedanken: Sind unsere Toten allein in dieser Nacht, oder sind sie in der Herrlichkeit?

Als einer meiner liebsten Studenten im Krieg fiel, hörte ich seinen Vater beten: „Wenn es möglich ist, so grüße ihn.“
Ich habe dieses Gebet nicht vergessen.
In ihm war in aller Kindlichkeit,
ganz ohne Neugier und in innigem Glauben die Frage enthalten,
wo der Vater seinen Jungen suchen solle.

Immer ist es der eine Trostgedanke, der ständig wiederkehrt: Die Treue Gottes, mit der er uns umfängt und an sich zieht, hört auf keinen Fall auf. Es gibt keinen Augenblick, auch nicht in denen des Todes, in dem sie unterbrochen werden könnte. Unsere Unsterblichkeit liegt also nicht in uns selbst. Sie besteht nicht in der Unzerstörbarkeit eines Seelenfunkens, dem Tod und Verwesung nichts anhaben könnten - das alles wären nur Träume, durch die wir die harte Wirklichkeit des Todes verdrängten - sondern unsere Unsterblichkeit und unsere Immunität, unsere Unverletzlichkeit gegenüber dem letzten Feind besteht nur in dieser Treue, die uns nicht fallen lässt. Was wir im Glauben schon jetzt erfahren und geschenkt bekommen – diese Gemeinschaft mit Gott - bleibt auch unser Erbteil, wenn die Todesnacht kommt.

 Gott bleibt uns treu.
Seine Hand reckt sich auch in diesen Abgrund.
Und zwischen mir und jeder Finsternis wird Jesus Christus stehen.

 (Helmut Thielicke)